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Den technischen Möglichkeiten der Hörsystemversorgung sind heute kaum noch Grenzen gesetzt: Ob Bluetooth oder automatische Situationserkennung, brillanter Klang oder besonders kleine Bauform ‒ für jeden Hörsystemträger gibt es das Modell mit den gewünschten Features. Doch dienen nicht alle diese Features zugleich auch dem eigentlichen Behinderungsausgleich. Angenehm, ästhetisch oder komfortabel mögen viele Eigenschaften der modernen Hörsysteme von heute sein, diese Eigenschaften sind jedoch nicht von der Solidargemeinschaft – sprich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – zu übernehmen. Doch wo zieht man die Grenze zwischen dem notwendigen Behinderungsausgleich und dem sogenannten Nice-to-have?

 

Sachverhalt

Diese Frage beschäftigte auch das Sozialgericht Karlsruhe (Urteil vom 03.04.2019, Az. S 2 R 4096/17), das über den Anspruch einer schwerhörigen Callcentermitarbeiterin zu entscheiden hatte. Sie begehrte ein aufzahlungspflichtiges Hörsystem in In-dem-Ohr(IdO)-Bauform, da ein Hinter-dem-Ohr(HdO)-Gerät den Tragekomfort mindere und den Halt des Callcenterheadsets beeinträchtige. Außerdem erreiche sie bei einer Versorgung mit dem begehrten IdO-System durch den Erhalt der Ohrmuschelfunktion ein besseres Orientierungshören mit besserer Lokalisation der Gesprächspartner.

Der Freiburger Sprachtest ergab jedoch, dass die Klägerin mit dem begehrten Hörsystem ein um lediglich fünf Prozentpunkte besseres Sprachverstehen im Störschall erzielen konnte. Die Klägerin widersprach der isolierten Heranziehung dieses objektiven Ergebnisses mit dem Hinweis auf ihre subjektiven Höreindrücke. Diese müsste das Gericht neben der objektiven Messung ebenfalls berücksichtigen. Das Sozialgericht Karlsruhe teilte die Auffassung der Klägerin jedoch nicht und wies ihre Klage ab.

 

Entscheidungsgründe

Hierzu erfolgte zunächst die Feststellung des Gerichtes, dass ein um fünf Prozentpunkte besserer Sprachverstehenswert im Störschall nur eine „geringfügig zu vernachlässigende Verbesserung“ darstelle. Daher hätte die Klägerin ohne relevanten Nachteil mit dem zuzahlungsfreien Hörgerät versorgt werden können.

Die subjektive Einschätzung der Klägerin führte zu keiner anderen Bewertung. Vielmehr sei der Freiburger Sprachtest geeignet, die Versorgungsindikation zu objektivieren. Nach Auffassung des Sozialgerichtes Karlsruhe seien keine Gründe ersichtlich, den Freiburger Sprachtest für die Beurteilung der Versorgungsqualität außer Acht zu lassen. Die abweichende Behauptung der Klägerin, mit dem aufwendigeren Gerät besser zu hören, könne nicht anhand objektiver Anknüpfungspunkte nachvollzogen werden. Der unmittelbare Behinderungsausgleich solle das Verstehen ermöglichen, ohne dass es auf den – objektiv nicht überprüfbaren – Klang des Gehörten ankäme.

Sofern die Klägerin mit einer höheren Bequemlichkeit argumentiere, könne auch das keinen Anspruch auf eine höherwertige Versorgung rechtfertigen. Auch seien dem Gericht diverse Headsets bekannt, die die gesamte Ohrmuschel einschließlich Hörgerät bedecken, sodass eine HdO-Versorgung auch aus diesem Grunde letztlich ausreichend gewesen wäre.

Die „bessere“ Versorgung mit einem IdO-Gerät sei daher im Ergebnis lediglich eine „komfortablere“ Versorgung. Die sei aber gerade nicht notwendig im Sinne des Sozialgesetzbuches (SGB) V.

 

Für die Praxis

Das immer größer werdende Angebot an unterschiedlichen Hörsystemmodellen ist für viele ein Segen ‒ weckt aber nachvollziehbarerweise auch Begehrlichkeiten. Allein ein besserer Klang oder eine bequemere Nutzung rechtfertigen jedoch nicht die Leistung der GKV und damit der Solidargemeinschaft.

Entscheidend für die tatsächlich notwendige Versorgung sind allein objektive Maßstäbe. Diese können mithilfe des validierten Freiburger Sprachtestes auch nachvollziehbar gemessen werden. Ergibt die objektive Messung aber eine Gleichwertigkeit von aufzahlungsfreier und aufzahlungspflichtiger Versorgung, so kann der Anspruch auf das höherwertige Hörsystem nicht mit subjektiven Empfindungen begründet werden. Für die subjektive Einschätzung des Leistungsberechtigten ist kein Platz mehr, wenn validierte objektive Testverfahren wie der Freiburger Sprachtest existieren. Anderenfalls wäre die Hilfsmittelversorgung ein Wunschkonzert auf GKV-Kosten.

Umso wichtiger ist es, dem Kunden frühzeitig zu verdeutlichen, dass er bestimmte Features nur auf eigene Kosten erwerben kann. Paragraf 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V sieht das ausdrücklich vor: „Wählen Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen.“

Komfortfeatures sind damit auch nach dem Gesetz nichts Schlechtes. Sie sind aber nicht im Sinne des Behinderungsausgleiches vom Leistungsträger zu leisten. Dieser Aspekt ist in der Kundenberatung zwingend zu beachten. Hierzu sollte dem Kunden stets ein aufzahlungsfreies Hörsystem angeboten werden, das nach dem Freiburger Sprachtest ein gleichwertiges Sprachverstehen (Differenz von maximal fünf Prozentpunkten) wie das gewünschte Mehrkostensystem erzielt.

Denn nur so kann dem Kunden verdeutlicht werden, welches Hörsystem er zum Behinderungsausgleich ohne Mehrkosten erhält. Anderenfalls sieht sich am Ende nicht zuletzt auch der Hörakustiker einem langwierigen und gegebenenfalls auch kostenintensiven Rechtsstreit ausgesetzt.

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier.

Alexandra Gödecke • biha

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