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Nach meisterlichem Standard erfolgt die Anpassung von Hörgeräten in einem direkten, persönlichen Prozess, bei dem der Kunde und der Hörakustiker physisch am selben (präqualifizierten) Ort anwesend sind. Mit dem Aufkommen digitaler Technologien setzen jedoch immer mehr Anbieter auf eine reine Onlineversorgung. Daher stellt sich die berechtigte Frage, ob eine ausschließliche Fernanpassung und insbesondere die Werbung dafür überhaupt rechtlich zulässig sind. Diese Frage hat nun das Landgericht Traunstein mit Urteil vom 26.10.2023 (Az.: 7 O 1412/22) rechtskräftig entschieden.

 

Sachverhalt

Die Beklagte, ein Hörakustikunternehmen, das in Deutschland fünf Niederlassungen betreibt, jedoch hauptsächlich über einen Onlineshop verkauft, hat sich ausschließlich auf digitale Fernanpassungen spezialisiert. Auf der Website des Unternehmens wurde der Prozess wie folgt beschrieben: Der Kunde übermittelt der Beklagten die HNO-ärztliche Verordnung digital, z. B. als Scan oder per einfachem Foto. Allein basierend auf dieser Indikation des Arztes programmiert die Beklagte die Hörgeräte vor und sendet diese anschließend auf dem Postweg an den Kunden. Die Erstanpassung des Geräts erfolgt sodann über eine Livevideositzung im Internet mittels einer bereitgestellten Smartphone-App. Während dieser Anpassung befindet sich der Hörakustiker der Beklagten in einem präqualifizierten Raum, während sich der Kunde an einem beliebigen Ort aufhalten kann, z. B. im heimischen Wohnzimmer. Basierend auf dieser Videokonferenz wird das Hörsystem für den Kunden angepasst.

Die Klägerin, ein Hörakustikunternehmen mit mehreren Niederlassungen in Deutschland, hat die Beklagte abgemahnt und die Abgabe einer Unterlassungserklärung gefordert. Sie vertrat die Ansicht, dass die Werbung für digitale Fernanpassung gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen verstößt, insbesondere gegen § 9 des Heilmittelwerbegesetzes (HWG). Zudem sah sie die Tätigkeit der reinen Onlineanpassung als unvereinbar mit dem Medizinrecht an, speziell mit § 9 des Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes (MPDG). Eine Unterlassungserklärung wurde nicht unterzeichnet, weshalb der Fall vor Gericht gelangte.

 

Entscheidungsgründe

Das Landgericht Traunstein entschied gegen den Fernanpasser vollumfänglich. Es verbot explizit die Werbung für die Anpassung von Hörsystemen ohne direkten Kundenkontakt, da dies gegen § 9 HWG verstößt. Danach ist eine Werbung unzulässig, die eine Fernbehandlung bewirbt. Im Kern betont das Gericht diese Entscheidung mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, da es eine ausschließliche Fernbehandlung ohne persönlichen Kontakt als grundsätzlich gesundheitsgefährdend einstuft.

Des Weiteren unterstrich das Urteil die Notwendigkeit, Qualitätsstandards und Rückverfolgbarkeit bei der Anpassung personalisierter Medizinprodukte gemäß des MPDGs zu gewährleisten. Im vorliegenden Fall verstieß die Beklagte gegen § 9 Absatz 1 Nummer 1 MPDG. Danach ist der Hörakustiker verpflichtet, auf Grundlage eigener Untersuchungen und Messungen eine eigene Verordnung zu dokumentieren. Eine solche Verordnung hat die Beklagte jedoch nicht dokumentiert. Das Gericht hob hervor, dass diese Verordnung ausschließlich durch einen Hör­akustiker erstellt und dokumentiert werden muss. In seiner Begründung unterstrich das Gericht, dass der Gesetzgeber mit dieser Regelung ausdrücklich nicht die ohrenärztliche Verordnung Muster 15 im Sinn hatte.

 

Werbung für die ausschließliche Fernanpassung ist verboten

Das Gericht erörterte in seiner Urteilsbegründung zunächst das Verbot der Werbung für Fernanpassungen im Kontext des Heilmittelwerbegesetzes. Gemäß § 9 Satz 1 HWG ist eine Werbung unzulässig, wenn sie sich auf die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden bezieht, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier basiert. Das Gesetz benennt diese Art der Erkennung und Behandlung in einer Legaldefinition als Fernbehandlung.

Das Gericht klassifizierte die digitale Fernanpassung als eine solche Form der Fernbehandlung. Entscheidend für eine Fernbehandlung ist, dass der Behandelnde ohne eigene Wahrnehmung der erkrankten Person konkrete und individuelle diagnostische oder therapeutische Äußerungen zu dieser Person vornimmt. Der Begriff der Behandlung wird dabei im Sinne eines Patientenschutzes weit verstanden.

In dem vorliegenden Fall, so das Gericht, nimmt die Beklagte auf Basis von aus der Ferne übermittelter Information eine Anpassung bzw. Justierung am Hörsystem vor. Dies geschieht unstrittig ausschließlich während einer Livevideositzung über das Internet, ohne dass eine persönliche Inaugenscheinnahme bei gleichzeitiger physischer Anwesenheit des Hörakustikers und des Kunden stattfindet. Somit erfolge die Anpassung nicht aufgrund der eigenen Wahrnehmung des Hörakustikers.

Dabei wird im Rahmen der Anpassung gezielt auf das individuelle Hördefizit des Kunden eingewirkt, mit dem Ziel der Linderung oder Heilung. Ein solches Verfahren entspricht nach Auffassung des Gerichts genau der oben beschriebenen Behandlung eines Leidens im Sinne des § 9 Satz 1 HWG.

 

Abgrenzung: Berufsrecht und Heilmittelwerbegesetz

Die Beklagte brachte vor, dass diese digitale Fernanpassung jedoch seit vielen Jahren dem technischen und fachlichen Standard entspreche, was sich etwa aus § 2 Nr. 5 der Hörakustikermeisterverordnung ableiten lasse, in der die Teleaudiologie begrifflich erwähnt wird.

Unabhängig davon, dass die Beklagte bei ihrer Auffassung verkennt, dass die bloße Erwähnung eines Begriffs, hier die Teleaudiologie, in einer Verordnung nicht automatisch die Festlegung eines technischen, fachlichen und allumfassenden Standards impliziert, wies das Gericht diesen Einwand der Beklagten mit dem Hinweis zurück, dass bei berufsrechtlichen, also materiellen Regelungen wie der Hörakustikermeisterverordnung nicht zwangsläufig eine Akzessorietät, also eine Abhängigkeit, zu formellen Regelungen wie dem Heilmittelwerbegesetz besteht. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies: Die Tatsache, dass etwas in einem Gesetz oder einer Verordnung erlaubt ist, impliziert nicht automatisch, dass dies auch auf andere gesetzliche Regelungen übertragbar ist.

 

§ 9 HWG als abstrakter Gefährdungstatbestand

Darüber hinaus machte das Gericht generell Ausführungen über den § 9HWG. Danach stellt § 9 HWG einen abstrakten Gefährdungstatbestand dar. Ein abstrakter Gefährdungstatbestand verbietet bestimmte Verhaltensweisen, da sie generell geeignet sind, ein bestimmtes Rechtsgut, hier beispielsweise das körperliche Wohlbefinden und die Gesundheit, zu gefährden. Der entscheidende Punkt bei einem abstrakten Gefährdungstatbestand ist, dass nicht der Eintritt eines Schadens oder einer konkreten Gefahr nachgewiesen werden muss, sondern lediglich, dass das Verhalten typischerweise gefährlich ist. Aus diesem Grund wies das Gericht die Versuche vonseiten der Beklagten, mittels eines Sachverständigengutachtens nachzuweisen, dass etwa Hörschäden durch überhöhte Geräuschpegel nicht zu befürchten seien, korrekterweise und in konsequenter Auslegung des Gesetzestextes zurück.

 

Verbot der Werbung für Fernanpassungen gerechtfertigt

Das Gericht hat sich in seiner Entscheidung auch mit der Frage auseinandergesetzt, ob ein Werbeverbot für die Fernanpassung von Hörgeräten mit der Berufsausübungsfreiheit gemäß Artikel 12 des Grundgesetzes vereinbar ist. Staatliche Maßnahmen, die die geschäftliche oder berufliche Werbung einschränken, stellen einen Eingriff in diese Freiheit dar.

Nach Auffassung des Gerichts ist ein solcher Eingriff im vorliegenden Fall jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da die potenziellen Gesundheitsrisiken, die mit der ausschließlichen Fernanpassung von Hörsystemen einhergehen, derart schwerwiegend sind, dass ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit zum Schutz der Kunden unbedingt gerechtfertigt und erforderlich ist. Eine einschränkende Auslegung des § 9 HWG kommt daher nicht in Betracht.

 

Hörakustiker müssen Dokumentationspflichten erfüllen

Das Gericht befasste sich neben dem Werbeverbot auch mit den Regelungen des § 9 MPDG. § 9 Absatz 1 MPDG verlangt etwa von natürlichen und juristischen Personen, die serienmäßig hergestellte Produkte an die individuellen Anforderungen eines Patienten anpassen, die Einhaltung spezifischer Dokumentationspflichten. Ziel dieser Vorschrift ist es, die Sicherheit und Funktionsfähigkeit personalisierter Medizinprodukte, wie z. B. angepasste Hörsysteme, zu gewährleisten. Sie soll die Qualitätssicherung der Anpassung und eine angemessene Rückverfolgbarkeit der Produkte sicherstellen.

Die Dokumentationspflichten gemäß Absatz 1 des § 9 MPDG decken verschiedene Bereiche ab, wobei das Gericht sein Hauptaugenmerk auf den ersten Aspekt, § 9 Abs. 1 Nr. 1 MPDG, legte. Dieser beinhaltet die Notwendigkeit, die schriftliche Verordnung zu dokumentieren. Diese ist gemäß § 9 Absatz 2 MPDG anschließend dem Kunden auszuhändigen.

 

Hörakustiker muss eigenständige Verordnung ausstellen

In seiner Entscheidung verdeutlichte das Gericht, dass unter dem Begriff schriftliche Verordnung gemäß § 9 Abs. 1 MPDG nicht die ärztliche Verordnung – Muster 15 – zu verstehen ist, sondern vielmehr eine eigenständige Verordnung, die vom Hör­akustiker zu erstellen ist.

Diese Auslegung des Gesetzestextes wird insbesondere durch die gewählten Formulierungen in der Gesetzesbegründung zum MPDG gestützt. In einer Parallele zu ärztlichen oder zahnärztlichen Verordnungen für Sonderanfertigungen wird dabei hervorgehoben, dass die in den schriftlichen Verordnungen von Gesundheitshandwerkern enthaltenen Daten auf eigenen Untersuchungen oder Messungen basieren müssen. Diese Daten sollen die individuellen Bedürfnisse und Charakteristika des Patienten, wie z. B. ein Audiogramm, erfassen und die wesentlichen Merkmale sowie Eigenschaften der Sonderanfertigung oder des final angepassten Produkts präzise beschreiben. Aus dieser Formulierung wird deutlich, so das Gericht, dass mit schriftlicher Verordnung konkret nur die Verordnung des Gesundheitshandwerkers gemeint sein kann und eben nicht die ärztliche Verordnung, die lediglich eine Indikation darstellt.

Gerade eine solche eigenständige Verordnung wird von der Beklagten gerade nicht dokumentiert und kann in der Folge auch nicht an den Kunden ausgehändigt werden, sodass das Gericht, neben dem Verstoß gegen das Heilmittelwerbegesetz, auch einen Verstoß aufgrund der fehlenden Dokumentation moniert hatte.

 

Entspricht Fernanpassung dem Stand der Technik?

Abschließend verdient noch § 9 Abs. 1 Nr. 5 MPDG Beachtung, ein Aspekt, der in der Entscheidung des Gerichts nicht explizit behandelt wurde, da er für die vorliegende Urteilsfindung als nicht mehr entscheidend erachtet wurde. Diese Vorschrift verlangt, dass die Anpassung von Medizinprodukten dem aktuellen Stand der Technik genügen und entsprechend dokumentiert sein muss. Diese Überlegung führt zu der berechtigten Frage, ob eine ausschließliche Onlineversorgung, die lediglich über das Internet mittels Videokommunikation stattfindet, zum aktuellen Zeitpunkt tatsächlich diesem geforderten Stand der Technik entsprechen kann. Diese Bedenken werden durch Sachverständige, einschließlich der Meinungen ärztlicher Sachverständiger, durchaus kritisch gesehen. Vor allem bei einer ausschließlichen Fernanpassung erscheint es unerlässlich, dass bestimmte Schritte, etwa die Otoskopie und die ersten Messungen, physisch vor Ort in einem präqualifizierten Raum durchgeführt werden sollten.

Zudem sehen die Krankenkassen, die hauptsächlich nach den bestehenden Rahmenverträgen mit der Bundesinnung der Hörakustiker KdöR und den verschiedenen Krankenkassenverbänden abrechnen, eine ausschließliche Fernanpassung als unzulässig im Rahmen ihrer Abrechnungspraktiken an und dürften dies in letzter Konsequenz auch als Vertragsverstoß werten.

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier.

Patrick Frank, Syndikusrechtsanwalt, Bundesinnung der Hörakustiker (biha) KdöR


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