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Viele Hörakustiker überwachen ihre Geschäftsräume durch die offene Videoüberwachung. Hierfür liegt häufig ein berechtigtes Interesse vor, z. B. der Schutz vor Einbrüchen, Diebstahl, Vandalismus, Verhütung von Betrug und Leistungsmissbrauch oder genereller Eigentumsschutz. Das Hörakustikunternehmen muss nur seiner Transparenzpflicht durch geeignete Beschilderung nachkommen. Wie verhält es sich aber, wenn dabei zufällig der Arbeitnehmer bei einer Pflichtverletzung gefilmt wird? Sind diese Videoaufnahmen verwertbar? Hierzu hat sich jüngst das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem Urteil vom 29.06.2023, Az: 2 AZR 296/22 geäußert.

In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die ein vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Dies hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) nunmehr in einer grundlegenden Entscheidung festgestellt. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahmen des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts stehen.

 

Sachverhalt

Der klagende Arbeitnehmer war in einer Gießerei beschäftigt. Der Arbeitgeber hatte eine Mehrarbeitsschicht am Samstag angeordnet. Der klagende Arbeitnehmer war an diesem Tag auch zunächst auf dem Werksgelände erschienen. Allerdings hat er dann die Betriebsstätte bereits vor Schichtbeginn wieder verlassen, ohne sich abzumelden und in der Absicht, den Samstag bezahlt zu bekommen. Aufgrund eines anonymen Hinweises hat der Arbeitgeber daraufhin die Videoaufzeichnungen des Werkstores eingesehen. Hier war erkennbar, dass der Arbeitnehmer bereits vor Schichtbeginn wieder das Werksgelände verlassen hatte. Die Videokamera war offen angebracht und nicht zu übersehen. Im Übrigen wurden die Arbeitnehmer auch durch ein Piktogramm auf die Videoaufzeichnung aufmerksam gemacht.

Nach Einsicht in die Videoaufnahme hat der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich, wegen Arbeitszeitbetrug gekündigt. Hiergegen hat der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage eingereicht mit der Behauptung, samstags gearbeitet zu haben. Die Videoaufzeichnung dürfe wegen eines Datenschutzverstoßes durch den Arbeitgeber nicht im Prozess zu seinen Lasten verwertet werden. Zudem habe der Arbeitgeber die Daten zu lange gespeichert. Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 06.07.2022, Az. 8 Sa 1149/20, haben der Kündigungsschutzklage zunächst stattgegeben.

Die Vorinstanzen waren der Auffassung, dass die Erkenntnisse aus der Videoüberwachung einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot unterliegen würden und dürften daher im Kündigungsschutzprozess nicht berücksichtigt werden. Der Arbeitgeber konnte deshalb den Beweis eines pflichtwidrigen Verhaltens des Arbeitnehmers nicht führen.

Das BAG hat nunmehr mit Urteil vom 29.06.2023, Az.: 2 AZR 296/22, die Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

 

Entscheidungsgründe

Das BAG hält die Erkenntnisse aus der Videoüberwachung am Werkstor für verwertbar. In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf Aufzeichnungen aus offenen Videoüberwachungen, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Nach Auffassung des BAGs spielt es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes bzw. der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) entspricht. Einer Verwertung der personenbezogenen Daten des Arbeitnehmers durch die Gerichte für Arbeitssachen stehe die DSGVO nicht entgegen. Das gelte jedenfalls dann, wenn wie hier ein vorsätzliches Fehlverhalten im Raum steht und die Videokamera durch ein Schild ausgewiesen wird und auch sonst nicht zu übersehen ist.

Ein möglicher Datenschutzverstoß führt laut BAG also nicht automatisch zum Beweisverwertungsverbot. Vielmehr muss das Tatsachengericht die widerstreitenden Interessen abwägen.

Im Prozess um eine fristlose Kündigung aufgrund eines vorsätzlichen Arbeitszeitbetrugs wiegt das Interesse an der Sachverhaltsaufklärung nach Auffassung des BAGs höher als die Datenschutzinteressen des Arbeitnehmers.

Das BAG hat deshalb den Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht Niedersachsen zurückverwiesen mit dem Hinweis, dass die Vorinstanz verpflichtet ist, die betreffende Bildsequenz aus der Videoüberwachung am Werkstor in Augenschein zu nehmen und bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.

 

Für die Praxis

Zumindest in Verfahren vor den Arbeitsgerichten bewertet die Rechtsprechung das Interesse an einer wahrheitsgemäßen Sachverhaltsaufklärung höher als das Datenschutzinteresse des Arbeitnehmers. Das BAG verfolgt eine verwertungsfreundliche Linie. Die Verletzung von datenschutzrechtlichen Vorgaben führt nicht automatisch zu einem gerichtlichen Verwertungsverbot. Datenschutz ist kein Täterschutz.

Nach Auffassung des BAGs kommt es deshalb nicht darauf an, ob hier im Rahmen einer offenen Videoüberwachung ein möglicher Datenschutzverstoß gegen das Datenschutzinteresse des Arbeitnehmers vorliegen würde. Vielmehr muss das Gericht auch bei einem möglichen Datenschutzverstoß die widerstreitenden Interessen abwägen und im Zweifel Videoaufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung im Rahmen seiner Entscheidung berücksichtigen. Dies gilt zumindest dann, wenn der Vorwurf eines vorsätzlichen Arbeitszeitbetrugs im Raum steht und dieser durch eine Videoaufzeichnung geklärt werden kann.

Im vorliegenden Fall war zudem beachtlich, dass bei der offenen Videoüberwachung explizit auf die Überwachungsmaßnahme mit einem Piktogramm hingewiesen worden ist und die Videokamera auch für jeden deutlich erkennbar war.

 

Grenzen der Videoüberwachung

Selbstverständlich kann aus der Entscheidung nicht geschlussfolgert werden, dass nunmehr eine Videoüberwachung durch den Arbeitgeber uneingeschränkt zulässig ist.

Da eine Videoüberwachung immer auch einen erheblichen Eingriff in die Privatsphäre des Arbeitnehmers darstellt, muss sich die Zulässigkeit einer Videoüberwachung stets am allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beschäftigten aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) messen lassen.

Hieraus folgt, dass Videoaufzeichnungen nicht das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers völlig unangemessen verletzen dürfen. So wird beispielsweise eine Überwachung von Aufenthalts- und Ruheräumen oder des Toilettenbereichs wegen der Verletzung der Intim- und Privatsphäre nicht zulässig sein.

Auch betrifft die vorliegende Entscheidung eine offene Videoüberwachung im öffentlichen Raum des Werksgeländes. An die Zulässigkeit einer verdeckten Videoüberwachung werden weit höhere Anforderungen gestellt werden müssen. Eine verdeckte Videoüberwachung ist allenfalls dann zulässig, wenn in der Vergangenheit bereits erhebliche Straftaten vorgefallen sind und deshalb eine verdeckte Videoüberwachung zur Überführung des Täters erforderlich und geeignet ist, beispielsweise die Überwachung der Kasse, nachdem erhebliche Fehlbestände festgestellt wurden. Jedenfalls muss auch hier immer eine umfassende Interessenabwägung stattfinden.

Zu beachten ist, dass eine Abwägung der Interessen nicht dazu führen kann, eine dauerhafte Videoüberwachung von Arbeitnehmern im nicht öffentlichen Raum zu installieren, da hierdurch ein permanenter Überwachungsdruck auf die Arbeitnehmer entsteht, dem sich diese während ihrer arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit nicht entziehen können.

 

Verhältnis zum Europarecht

Ein mögliches Beweisverwertungsverbot könnte sich auch aus europäischen Rechtsgrundlagen ergeben. Zwar finden sich um das Europarecht keine konkreten Regelungen zum Arbeitnehmerdatenschutz in Bezug auf die Zulässigkeit von Videoaufnahmen. Allerdings muss immer die Charta der Grundrechte der Europäischen Union beachtet werden. Hier unterstreichen die europarechtlichen Vorschriften die Erheblichkeit des Schutzes persönlicher Daten und damit auch im Beschäftigungsverhältnis.

Der Bundesgerichtshof hat im entschiedenen Fall keine Notwendigkeit gesehen, das Verfahren dem Europäischen Gerichtshof wegen eines möglichen Konflikts mit dem Unionsrecht vorzulegen und deshalb auf eine Vorlage nach Luxemburg verzichtet. Nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass in anderen Fallgestaltungen eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof notwendig werden wird und der Europäische Gerichtshof möglicherweise strengere Vorgaben machen könnte.

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier.

Mathias Stier, Syndikusrechtsanwalt, Bundesinnung der Hörakustiker (biha) KdöR….

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