Immer wieder müssen Hörakustiker Fristen beachten. Ob dies aufgrund der Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen, bei Kündigungen (vor allem bei Arbeits- und Mietverhältnissen), befristeten Angeboten oder anderen rechtlich erheblichen Erklärungen geschieht, ist dabei einerlei. Im Jahr 2019 führte ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu Irritationen, weil als Maßstab für den Zugang der Kündigung in jedem Fall eine Verkehrsauffassung zu prüfen sei. Zu fragen sei nämlich, wann mit der Entnahme des Briefs aus dem Briefkasten zu rechnen ist. Diese Rechtsauffassung hat das BAG jetzt aufgegeben und sich der generalisierenden Betrachtungsweise des Bundesgerichtshofs (BGH) angeschlossen. Das neue Urteil des BAGs sorgt für sehr viel mehr Rechtsklarheit (BAG, Urteil vom 20.06.2024, Az.: 2 AZR 213/23.
Würde man den Zugang einer Kündigung nach der Verkehrsauffassung beurteilen müssen, stellen sich viele Fragen, die in einem zivil- oder arbeitsrechtlichen Verfahren zu beweisen wären. Gibt es Statistiken, wann Personen in ihrem Briefkasten nachschauen? Ist dies bei Arbeitnehmern anders als bei Mietern oder dem Rest der Bevölkerung? Kann ein Nachschauen in den Briefkasten nur vormittags erfolgen, weil früher die Post nur am Morgen kam? Sind neue Zustellpraktiken der Deutschen Post AG für die Änderung der Verkehrsauffassung maßgeblich? Über all diese Fragen lässt sich trefflich streiten und im Zweifel müsste über sie Beweis erhoben werden. Der BGH und ihm jetzt wieder folgend das BAG bedienen sich einer altbewährten Rechtskonstruktion. Diese nennt sich „Beweis des ersten Anscheins“. Ein typischer Geschehensablauf führt nach allgemeiner Lebenserfahrung zu einem bestimmten Erfolg. Ein solcher typischer Geschehensablauf ist z. B. die Aussage, dass jemand, der mit seinem Fahrzeug aus der Kurve geworfen wird, nach der Lebenserfahrung zu schnell in diese Kurve hineingefahren ist. Der Fahrer muss dann einen atypischen Verlauf beweisen. Er sei etwa geblendet worden, Wild sei plötzlich über die Fahrbahn gelaufen oder ein anderes Fahrzeug habe im Gegenverkehr überholt. Diese Regeln des Anscheinsbeweises gelten auch für den Zugang von Schreiben. Ist das Kündigungsschreiben zu den üblichen Postzustellzeiten in den Briefkasten gelegt worden, besteht der Anscheinsbeweis, dass dem Empfänger dieses Schreiben am gleichen Tag zugegangen ist.
Sachverhalt
Arbeitgeber und Arbeitnehmer stritten darum, wann das Arbeitsverhältnis beendet war. Die Arbeitsvertragsparteien hatten im Vertrag eine Kündigungsfrist von einem Vierteljahr zum Quartalsende vereinbart. Die Kündigung warf ein Postbote der Deutschen Post AG am 30. September in den Hausbriefkasten der Arbeitnehmerin ein und zwar zu den üblichen Postzustellzeiten. Es bestand nun Streit, ob die Kündigung am 30. September zugegangen war. Denn dann war das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember beendet. War die Kündigung nicht am 30. September zugegangen, endete das Arbeitsverhältnis erst am 31. März des Folgejahres mit der Folge, dass der Arbeitgeber drei weitere Monatsgehälter hätte zahlen müssen – selbstverständlich gegen Arbeitsleistung der Arbeitnehmerin. Die Arbeitnehmerin meinte, mit einer Entnahme des Kündigungsschreibens aus dem Briefkasten sei an dem Tag des Einwurfs durch den Postboten nicht zu rechnen gewesen. Der Arbeitgeber meinte, die ortsüblichen Postzustellzeiten würden gerade durch das Zustellverhalten der Postbediensteten der Deutschen Post AG geprägt. Für eine Zustellung außerhalb der üblichen Zustellzeiten gäbe es keine Anhaltspunkte.
Rechtliche Würdigung
Das BAG bedient sich zunächst der im Recht üblichen Formel: Die Möglichkeit der Kenntnisnahme reicht aus. Eine Erklärung, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, z. B. rechtlich verbindliche Angebote, die Annahme solcher Vertragsangebote oder Kündigungen, geht unter Abwesenden zu, wenn sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gerät, sodass die Möglichkeit der Kenntnisnahme besteht. Ob dies eintritt, ist nach den „gewöhnlichen Verhältnissen“ und „den Gepflogenheiten des Geschäftsverkehrs“ zu beurteilen. Die individuellen Verhältnisse des Arbeitnehmers bleiben unberücksichtigt. Der Einwurf in den Briefkasten bewirkt den Zugang, sobald nach der Verkehrsauffassung mit der nächsten Entnahme durch den Empfänger zu rechnen sei. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass der Empfänger einer schriftlichen Kündigung diese nicht am Tag des Einwurfs gelesen und zur Kenntnis genommen haben muss.
Verkehrsanschauung ungleich individuelle Verhältnisse
Anders als in dem zuvor von demselben Senat entschiedenen Fall wird jetzt nicht mehr auf die individuellen Verhältnisse des Arbeitnehmers abgestellt. Im Interesse der Rechtssicherheit sei vielmehr eine generalisierende Betrachtungsweise geboten. Das BAG, jetzt in Übereinstimmung mit dem BGH, lässt eine Verkehrsanschauung, wonach Hausbriefkästen im Allgemeinen unmittelbar nach Ende der üblichen Postzustellzeiten von dem Empfänger geleert werden, unbeanstandet. Das BAG betont jedoch, dass diese Zeiten stark variieren können. Aber dies seien individuelle Verhältnisse, die bei der Frage des Zugangs eines Schreibens unberücksichtigt bleiben müssen.
Beweis des ersten Anscheins
Sodann stellt das BAG bei dem Zugang einer Kündigung auf den Beweis des ersten Anscheins ab. Dieser Beweis hat einen Vermutungstatbestand und eine Vermutungsfolge. Ein weiteres Beispiel für den Anscheinsbeweis besteht in folgendem Satz der Lebenserfahrung: Wer auf einen anderen PKW auffährt, so wird vermutet, hat den nach der Straßenverkehrsordnung erforderlichen Sicherheitsabstand von einem halben Tachostand nicht eingehalten gemäß der gängigen Auffassung „Wer drauf fährt, ist schuld“.
Übliche Postzustellzeiten
Da es auf die üblichen Postzustellzeiten ankommt, stellt das BAG folgenden Satz der Lebenserfahrung auf: „Legt ein Bediensteter der Deutschen Post AG das Kündigungsschreiben in den Briefkasten des Arbeitnehmers, so wird vermutet, dass dies zu den üblichen Postzustellzeiten geschehen ist.“ Dann ist die Kündigung im Machtbereich und damit zugegangen. Dabei sei die genaue Uhrzeit unerheblich. Nur die üblichen Arbeitszeiten der Postbediensteten seien maßgeblich.
Da die Arbeitnehmerin gegen diesen Beweis des ersten Anscheins keine atypischen Umstände vorgetragen und bewiesen hat, bewirkte der Postbote die Zustellung am 30. September und damit rechtzeitig. Das Arbeitsverhältnis endete dann am 31. Dezember desselben Jahres.
Für die Praxis
Das Urteil des BAGs sorgt für Rechtssicherheit. Oft werden Kündigungen knapp vor einem Fristablauf ausgesprochen. Da der Tag der Zustellung für den Fristbeginn unerheblich ist, der Tag der Zustellung also bei der Fristberechnung nicht mitberechnet wird, muss mindestens einen Tag vor dem Fristbeginn, hier vor dem neuen Quartal oder etwa vor dem neuen Monat, die Kündigung zugegangen sein.
Immer Einwurfeinschreiben der Deutschen Post AG verwenden
Sollte der Hörakustiker das Kündigungsschreiben nicht gegen Empfangsnachweis persönlich aushändigen können oder ein Bote nicht greifbar sein, muss das Kündigungsschreiben durch ein Einwurfeinschreiben erfolgen. Der Zusteller, ein Bediensteter der Deutschen Post AG, legt das Schreiben in den Postkasten und dokumentiert den Einwurf mit seiner Unterschrift. Dieses Dokument erhält der Absender zum Beweis. Damit ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung der rechtliche Zugang des Kündigungsschreibens bewirkt. Ob der Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben in die Hände bekommt, liest oder in seine Wohnung trägt, ist dann rechtlich irrelevant. Er könnte es auch wegwerfen, der Zugang des Schreibens wäre bewirkt und der Lauf der Fristen würde beginnen.
Gefahr: Einschreiben mit Rückschein
Das Einschreiben mit Rückschein ist für den Zugang von rechtlich relevanten Erklärungen gefährlich, denn bei dieser Zustellungsart der Post übergibt der Postbedienstete das Einschreiben dem Empfänger oder seinem besonderen Zustellbevollmächtigten gegen Unterschrift. Wird an der Adresse niemand angetroffen, wird der Empfänger benachrichtigt, dass das Schreiben gegen Personalausweis in der Filiale abgeholt werden kann. Diese Benachrichtigung erfolgt schriftlich und wird vom Postbediensteten in den Postkasten gelegt. In der Filiale wird das Schreiben sieben Tage aufbewahrt und dann an den Absender zurückgesandt. In diesem Fall wird eine Zustellung überhaupt nicht bewirkt. Fristen werden unter Umständen versäumt. Wenn der Arbeitnehmer ahnt, dass ihm gekündigt werden soll, kann er mit dieser Zustellungsart, also Einschreiben mit Rückschein, die Zustellung vereiteln, ohne Nachteile zu haben. Schließlich ist es keine Obliegenheit des Arbeitnehmers, die Post aus der Postfiliale rechtzeitig abzuholen. Im Übrigen ist möglicherweise die Frist auch schon verstrichen, wenn der Arbeitnehmer drei oder vier Tage später die Kündigung in der Filiale in Empfang nimmt.
Zugang bei Krankheit oder anderer Abwesenheit
Das BAG betont eine „generalisierende Betrachtung“. Denn es muss für den Empfänger nur die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestehen. Ob der Empfänger, sprich der Arbeitnehmer, an einer derartigen Kenntnisnahme durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit wegen Urlaub oder andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war, Kenntnis von dem Schreiben zu nehmen, ist dann rechtlich irrelevant. Den Arbeitnehmer trifft die Obliegenheit, die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen. Diese Vorkehrungen bestehen in der Regel darin, dass jemand während einer Krankheit oder längeren Abwesenheit, auch aufgrund von Urlaub, den Postkasten kontrolliert. Unterlässt der Arbeitnehmer diese Obliegenheit, wird der Zugang von rechtlich relevanten Schreiben durch solche allein in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründe nicht gehindert.
Fazit
Legt der Bedienstete der Deutschen Post AG oder ein Bote die Kündigung gegen Nachweis, also die Unterschrift auf einem Rückschein oder der Bestätigung des Boten in schriftlicher Form, in den Postkasten, so gilt die Zustellung an diesem Tag als bewirkt. Es sei denn, der Arbeitnehmer beweist einen atypischen Sachverhalt, was schwierig ist. Liegt die Zustellung vor dem Fristbeginn, mag dies auch nur ein Tag sein, wird die Frist in Gang gesetzt und die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses tritt bei Fristablauf ein. Wann jemand in seinen Postkasten schaut, ist dann dabei rechtlich irrelevant.
Das Urteil zum Fall lesen Sie hier.
Peter Radmacher, Leitung Abteilung Recht, Bundesinnung der Hörakustiker KdöR (biha)
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