Symbolbild: Schriftzug Schwerbehindertenrecht auf einem Ordner und ein Paragraphenzeichen
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Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 03.04.2025, Az.: 2 AZR 178/24, klargestellt, dass Arbeitgeber bei einer Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters in der Probezeit kein spezielles Verfahren, das Präventionsverfahren, einleiten müssen. Hintergrund: Erst nach der Probezeit gibt es für schwerbehinderte Menschen im Arbeitsleben besonderen Schutz. Wenn es Schwierigkeiten im Job gibt, haben Arbeitgeber für schwerbehinderte Mitarbeiter normalerweise ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) durchzuführen. Dabei wird geprüft, wie das Arbeitsverhältnis erhalten werden kann.

 

Sachverhalt

Der schwerbehinderte Mitarbeiter fing im Januar 2023 an, bei einem Unternehmen als Leiter für die Haus- und Betriebstechnik zu arbeiten. Im Arbeitsvertrag wurde eine Probezeit von sechs Monaten vereinbart. Dem Arbeitgeber war bekannt, dass die Schwerbehinderung des neuen Angestellten 80 % betrug. Im Frühjahr 2023 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristgerecht, da er den neuen Kollegen als fachlich ungeeignet einstufte. Hiergegen reichte der Arbeitnehmer eine Kündigungsschutzklage ein, weil das Unternehmen weder das Präventionsverfahren eingeleitet noch ihm einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz angeboten hatte. Weder vor dem Arbeitsgericht Nordhausen (Urteil vom 04.06.2024, Az.: 1 Sa 201/23) noch vor dem Landesarbeitsgericht Thüringen (Urteil vom 30.08.2023, Az.: 2 Ca 293/23) hatte die Klage Erfolg. Mit der Revision vor dem höchsten Arbeitsgericht verfolgte der Arbeitnehmer sein Begehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Das Bundesarbeitsgericht bestätigte die Rechtsauffassung der vorherigen Instanzen. Die Kündigung des Arbeitnehmers während der Probezeit gem. § 1 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) war wirksam. Die ausgesprochene Kündigung hat nicht gegen das Benachteiligungsverbot aus § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Verbindung mit § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) verstoßen. Generell ist es so, dass die dem Kündigungsentschluss zugrunde liegenden Erwägungen ein Anhaltspunkt für den Zusammenhang zwischen der Kündigungserklärung und einem Diskriminierungsmerkmal sind. Einer Benachteiligungsabsicht oder einer anderen subjektiven Komponente bedarf es hierfür nicht. Es reicht aus, dass die Anknüpfung der Kündigung an ein Diskriminierungsmerkmal zumindest in Betracht kommt.  

 

Notwendigkeit des Präventionsverfahrens

Das Gericht hat sich an diesem Punkt mit der Frage auseinandergesetzt, wann der Arbeitgeber ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen hat. Bereits die Formulierung der Vorschrift macht deutlich, dass die Regelung ausschließlich Fälle erfasst, in denen das Kündigungsschutzgesetz anwendbar ist und ein geeigneter Kündigungsgrund für die Kündigung notwendig ist. Ein Präventionsverfahren muss deshalb nicht von einem Kleinbetrieb im Sinne des § 23 Abs. 1 KSchG durchgeführt werden und ist ebenfalls nicht zu durchlaufen, wenn die Probezeit noch nicht verstrichen ist. Mit einem anderen Verständnis von § 167 Abs. 1 SGB IX wären zudem die Grenzen einer unionsrechtskonformen Auslegung überschritten. Die Auslegung des BAGs ist darüber hinaus auch mit der UN-Behindertenkonvention vereinbar. Unter Kleinbetrieb fallen im Übrigen Betriebe, in denen in der Regel zehn oder weniger Arbeitnehmer beschäftigt werden. Auszubildende werden hier außer Acht gelassen, Teilzeitbeschäftigte werden je nach Umfang ihrer wöchentlichen Arbeitszeit anteilig gezählt. Das bedeutet, dass Unternehmen mit beispielsweise zwölf Arbeitnehmern trotzdem unter den Begriff des Kleinbetriebs fallen können, wenn vier oder mehr Mitarbeiter jeweils nur auf einer halben Stelle beschäftigt werden.

 

Keine Diskriminierung durch den Arbeitgeber

Bis auf das – zu Recht – unterbliebene Präventionsverfahren liegen im vorliegenden Fall keine Faktoren vor, aus denen sich eine Diskriminierung des Mitarbeiters aufgrund seiner Schwerbehinderung ergeben könnte. Stattdessen erfolgte die Kündigung ausschließlich aufgrund seiner mangelnden fachlichen Eignung. Der Angestellte hat weder vorgetragen, dass dieser Eignungsmangel untrennbar auf seiner Behinderung beruht oder das entsprechende Eignungsmängel bei Arbeitnehmern mit Behinderung viel öfter vorkämen. Insofern stand die Kündigung in keinem Zusammenhang mit der Schwerbehinderung des klagenden Arbeitnehmers. Aus diesem Grund musste auch nicht erörtert werden, ob der Arbeitgeber besondere Vorkehrungen für einen Arbeitsplatz eines Menschen mit Behinderung hätte treffen müssen. Die Maßnahmen sollen nämlich allein dazu dienen, behinderungsspezifische Nachteile auszugleichen und so den Arbeitnehmern mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Beruht die Kündigung aber weder direkt noch indirekt auf der Behinderung, besteht kein Raum dafür, behinderungsspezifische Nachteile auszugleichen.

 

Keine Errichtung eines zusätzlichen Arbeitsplatzes

Das BAG erläuterte, dass der Arbeitgeber auch nicht verpflichtet war, dem Mitarbeiter einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen, bei dem er seine Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll einbringen und weiterentwickeln könnte. Schließlich stand die fachliche Nichteignung des Angestellten für die Tätigkeit als Leiter für die Haus- und Betriebstechnik in keinerlei Zusammenhang mit der Schwerbehinderung. Die Nichteignung für die konkrete Position hätte durch angemessene, behinderungsspezifische Vorkehrungen nicht beseitigt werden können. Im Übrigen hat der Mitarbeiter auch keine freien Arbeitsplätze konkret im Betrieb benannt, für die er die notwendige Kompetenz und Fähigkeiten aufgewiesen habe. Die Errichtung eines zusätzlichen, bisher nicht vorhandenen und nicht benötigten Arbeitsplatzes dauerhaft vorzuhalten, ist darüber hinaus keinem Arbeitgeber zuzumuten.

 

Für die Praxis

Mit seiner Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht erstmals klargestellt, dass in Kleinbetrieben im Sinne des § 23 Abs. 1 KSchG kein Präventionsverfahren erforderlich ist, unabhängig davon, ob die Probezeit bereits erfolgreich durchlaufen wurde.

 

Was ist ein Präventionsverfahren?

Doch was genau ist unter dem Präventionsverfahren zu verstehen? Insbesondere kleinere Handwerksbetriebe, die bislang keine Erfahrungen im Umgang mit schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Arbeitnehmern gemacht haben, stehen hier häufig vor offenen Fragen. Beschäftigt ein Betrieb mehr als zehn Arbeitnehmer und ist unter ihnen ein schwerbehinderter oder gleichgestellter Mitarbeiter, sieht das Gesetz besondere Schutzmaßnahmen vor. Treten nach Ablauf der Probezeit Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis auf, hat der Arbeitgeber frühzeitig die zuständigen Stellen, in der Regel das Integrationsamt, einzuschalten. Ziel ist es, durch frühzeitiges Handeln bestehende Probleme zu identifizieren und gemeinsam mit dem Integrationsamt mögliche Lösungswege zu erarbeiten, sei es durch Beratung, Unterstützung oder finanzielle Hilfen. Das Präventionsverfahren schreibt dabei keine konkreten Maßnahmen vor. Vielmehr dient es als strukturierter Rahmen, um im Dialog mit allen Beteiligten Ursachen für Konflikte oder Leistungsprobleme zu erkennen und passende Maßnahmen zu entwickeln. Als interne Hilfe kann beispielsweise eine Versetzung, eine Mediation, eine Weiterbildung oder die Erarbeitung neuer Aufgaben in Betracht kommen. Auch externe Hilfe, beispielsweise eine medizinische oder berufliche Rehabilitation, die Vermittlung von Selbsthilfegruppen, die Nutzung einer Sozialberatung oder die Gewährung eines Lohnkostenzuschusses können Lösungsmöglichkeiten im Präventionsverfahren sein. Im Idealfall kann auf diese Weise das Arbeitsverhältnis dauerhaft fortgesetzt und eine Kündigung vermieden werden.

 

Richtiger Zeitpunkt für das Präventionsverfahren

Die generelle Aussage ist, dass das Integrationsamt möglichst frühzeitig eingebunden wird, um die Gefährdung des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden. Allerdings stellt sich die Frage: Wann ist frühzeitig? Umgangssprachlich würde man sagen, es sollte gehandelt werden, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Übertragen auf das Arbeitsleben bedeutet das, dass Arbeitgeber das Präventionsverfahren starten sollten, wenn Schwierigkeiten auftreten, die aber noch nicht den Charakter von Kündigungsgründen haben. Die Spannbreite ist also bewusst weit gefasst und beinhaltet auch Sachverhalte, die noch nicht als arbeitsvertragliche Pflichtverletzung zu bewerten sind. Sobald jedoch ein Kündigungsgrund eingetreten ist, kommen die vom Gesetz intendierten präventiven Maßnahmen zu spät. Ein Präventionsverfahren muss allein von seiner Begriffsbestimmung nicht mehr durchgeführt werden, wenn das Arbeitsverhältnis quasi kündigungsreif ist.  

 

Keine Voraussetzung für wirksame Kündigung

Für den Arbeitgeber bestehen zwar gesteigerte Fürsorgepflichten gegenüber seinen schwerbehinderten Mitarbeitern, allerdings ist die Durchführung eines Präventionsverfahrens keine Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung. Eine ohne Präventionsverfahren ausgesprochene Kündigung ist also nicht per se unwirksam. Der Arbeitgeber hat im Streitfall gegebenenfalls zu beweisen, dass er dennoch alle zumutbaren Möglichkeiten zur Abwendung einer Kündigung ausgeschöpft hat. Wenn ein Präventionsverfahren ohnehin nicht die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätte verhindern können, muss ein solches Verfahren aber natürlich nicht durchgeführt werden. Das Präventionsverfahren soll sowohl für den Mitarbeiter als auch für den Arbeitgeber eine Chance sein, einen möglicherweise langjährigen Angestellten als wertvollen Mitarbeiter zu halten und den Arbeitsplatz zu sichern.

Das Urteil lesen Sie hier.

Stephanie Graeff, Syndikusrechtsanwältin, Bundesinnung der Hörakustiker KdöR (biha)

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