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Unauffällig ist nicht gleichbedeutend mit der Beschreibung „unsichtbar“. Das entschied kürzlich das Landgericht (LG) Berlin mit Urteil vom 27.06.2023, Az.: 102 O 121/22. Möchten Hörakustiker oder Hersteller mit unsichtbaren Hörsystemen werben, muss das Produkt in jeder alltäglichen Situation nicht wahrnehmbar sein. Die Werbebehauptung einer Unsichtbarkeit müsste auch dann zutreffen, wenn ungünstige Umstände vorliegen, etwa durch anatomische Besonderheiten des Nutzers. Damit bestätigt das Gericht die bisherige Rechtsprechung zur Werbung mit unsichtbaren Hörsystemen. Ist das Hörsystem nicht in jedem Fall für außenstehende Personen unsichtbar, ist zwingend eine Relativierung in der Werbung erforderlich.

Gerne werben Hörakustiker oder Hersteller mit „unsichtbaren Hörgeräten“, aber das schätzte das Landgericht als irreführend ein. Viele IdO-Hörsystemen sind inzwischen zwar sehr klein, aber dennoch in verschiedenen Situationen durchaus von Dritten wahrnehmbar.

 

Sachverhalt

Ein Unternehmen schaltete auf seiner Website und auf einem Social-Media-Kanal Werbung für ein von ihm vertriebenes Hörsystem. Hierbei wurde mehrmals behauptet, dass das Produkt unsichtbar sei. Zum Teil wurde die Werbeaussage mit Abbildungen untermalt, auf denen das Hörsystem abgebildet war. Allerdings handelte es sich hierbei lediglich um die abstrakte Darstellung des Hörsystems, ein konkretes Tragebild des In-dem-Ohr(IdO)-Hörsystems wurde nicht gezeigt. Ebenso wenig war die Rückholvorrichtung in Form eines Rückholfadens auf den verwendeten Fotos zu erkennen. Ein Verein zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs mahnte das Unternehmen erfolglos ab und erhob anschließend eine Unterlassungsklage vor dem LG Berlin.  

 

Entscheidungsgründe

Die Richter aus Berlin teilten die Auffassung des Vereins und kamen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Werbung irreführend im Sinne des § 5 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) ist. Wird ein Hörsystem mit dem Merkmal der Unsichtbarkeit beworben, geht der Durchschnittsverbraucher davon aus, dass das Modell vollständig unsichtbar ist. Da die Werbebehauptung keinerlei Einschränkungen enthielt, sah das Gericht keine Notwendigkeit, danach zu differenzieren, ob das Hörsystem in „gewöhnlichen Alltagssituationen“ für andere sichtbar ist oder ob dies nur bei bestimmten Abständen oder Blickwinkeln zum Träger oder einer ungünstigen Ohranatomie der Fall ist. Es gibt nämlich keine objektivierbaren Maßstäbe, ab wann die Grenze zu einer „faktischen“ Unsichtbarkeit erreicht beziehungsweise überschritten sein soll. Stattdessen muss die Werbeaussage zur Unsichtbarkeit auch zutreffen, wenn ungünstige Umstände vorliegen, die etwa durch anatomische Besonderheiten des Hörsystemträgers bedingt sind. Tatsächlich ist es jederzeit möglich, dass das Hörsystem oder die Rückholvorrichtung vom Gegenüber wahrgenommen werden können. Dies kann sich z. B. durch das Herausrutschen des Rückholfadens aus der Ohrmuschel oder aus vergleichbaren Situationen ergeben. 

 

Kunden sehen Hörsystem als Ganzes

Die Argumentation des Unternehmens, dass die angesprochenen Verbraucher zwischen der Sichtbarkeit des eigentlichen Geräts und der Erkennbarkeit der Rückholvorrichtung unterscheiden, überzeugte das Gericht nicht. Der Rückholfaden ist ein fest installierter Teil des Hörsystems, sodass es lebensfremd ist, die Bezeichnung „unsichtbar“ nur auf den eigentlichen Korpus zu beziehen. Nur wenn die Werbung diesbezüglich einschränkende Hinweise enthalten würde, könnte eine solche differenzierte Betrachtungsweise in Frage kommen. Dies war in der streitgegenständlichen Werbung jedoch nicht der Fall.

 

Keine Branchenüblichkeit

Darüber hinaus ist der verwendete Rückholfaden zwar durch die Nutzung von durchsichtigem Kunststoff weitgehend unauffällig, allerdings besteht ein bedeutender Unterschied zwischen Unauffälligkeit und Unsichtbarkeit. Hinzu kommt, dass in der Werbeanzeige ausdrücklich behauptet wird, dass das angebotene Produkt unsichtbar sei. Der werbende Betrieb nimmt also absichtlich das Merkmal der Unsichtbarkeit für seine Leistung in Anspruch. Er hätte jederzeit einschränkende Formulierungen wie beispielsweise „nahezu unsichtbar“ oder „fast unsichtbar“ verwenden können um auszudrücken, dass der Rückholfaden unscheinbar und kaum sichtbar ist. Der Meinung, dass interessierte Kunden im Bereich der Hörakustik an werbliche Übertreibungen in Bezug auf die Unsichtbarkeit von In-Ear-Geräten gewöhnt wären und die Verbraucher gar nicht erwarten würden, dass die Hörsysteme tatsächlich unsichtbar sind, kann nicht gefolgt werden. Eine Branchenüblichkeit dieser Werbung besteht nicht und konnte von dem Werbenden auch nicht bewiesen werden.   

 

Strengerer Maßstab bei Onlinevertrieb

Das Gericht wies darauf hin, dass bei der konkreten Werbung auch der Vertriebsweg des Unternehmens zu berücksichtigen war. Kunden die sich bei einem Hörakustiker vor Ort für ein bestimmtes Hörsystem entscheiden, können bei der Beratung und Ausprobe im Fachgeschäft direkt erkennen, wie unauffällig ein bestimmtes Modell im täglichen Gebrauch ist. Soweit Kunden das Onlineangebot eines Hörakustikers nutzen, ist eine solche Inaugenscheinnahme vor der Marktentscheidung des Verbrauchers gerade nicht möglich. Kunden müssen sich somit in erhöhtem Maße auf die Aussagen des Anbieters verlassen können. Werben Internetanbieter mit vermeintlich unsichtbaren Hörsystemen, kommt ihnen eine höhere Verpflichtung zur Transparenz als stationären Hörakustikern zu, um die Erwartung der Verbraucher nicht zu enttäuschen. Die besprochene Entscheidung des LG Berlins ist noch nicht rechtskräftig.

 

Für die Praxis

Werbung mit unauffälligen Hörsystemen ist auch nach dem jüngsten Urteil des LG Berlins weiterhin möglich. Die überwiegende Anzahl an IdO-Hörsystemen ist sehr dezent designt, aber dennoch in verschiedenen Situationen durchaus von Dritten wahrnehmbar. Hinzu kommt, dass die Wahrnehmbarkeit mit der Anatomie des Hörsystemträgers zusammenhängt. Bei einer entsprechenden Werbung muss daher stets vorab geprüft werden, ob den Kunden gegenüber ein falscher Eindruck hervorgerufen wird. Dies gilt es in jedem Fall zu vermeiden, um keine Irreführung zu begehen und somit einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht.

 

Klarstellende Hinweise verwenden

Um eine Irreführung der angesprochenen Verbraucher zu verhindern, sollten klarstellende Zusätze bei der Bewerbung mit „unsichtbaren“ Hörsystemen verwendet werden. Der Fantasie kann hier freien Lauf gelassen werden, solange die Botschaft beim Kunden ankommt. Mögliche Formulierungen sind beispielsweise „nahezu unsichtbar“, „fast unsichtbar“ „so gut wie unsichtbar“ „kaum sichtbar“ oder „beinahe unsichtbar“. Zusätzlich oder auch alternativ können relativierende Abbildungen in der Werbeanzeige verwendet werden. Auf den verwendeten Fotos, Bildern oder Grafiken muss der Rückholfaden und im Idealfall der Sitz der Hörsysteme erkennbar sein. So kann der Leser direkt erkennen, dass das Hörsystem eben nicht vollkommen unsichtbar ist. Allerdings haben die genutzten Darstellungen den Nachteil, dass ein größerer Interpretationsspielraum besteht und gegebenenfalls ein Gericht die Abbildung nicht für ausreichend ansieht, ähnlich wie in dem oben besprochenen Urteil aus Berlin. Um stets rechtssicher zu handeln, sollten sich Hörakustiker bei der Werbung nicht auf klarstellende Fotos verlassen, sondern einschränkende Formulierungen bevorzugen.   

 

Korrektur täuschender Angaben

Werden einschränkende Zusätze in der Werbeanzeige verwendet, muss darauf geachtet werden, dass der klarstellende Hinweis nahe bei der vollmundigen Aussage, die zur Vermeidung einer Irreführungsgefahr nicht alleine stehen sollte, zu finden ist. Anderenfalls kann die Korrektur der Werbebehauptung die Irreführung nicht mehr ausräumen. Wichtig ist hierbei, dass alle relevanten Angaben nah beieinanderstehen, damit aus Sicht des Kunden die Informationen in einem Gesamtkontext wahrgenommen werden. Besondere Vorsicht sollte das werbende Unternehmen walten lassen, wenn es eine sogenannte Blickfangwerbung nutzen möchte.

 

Blickfangwerbung

Bei einer Blickfangwerbung werden einzelne Werbeangaben grafisch deutlich vom Rest der Werbeanzeige abgehoben, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf diese Werbeaussage zu lenken. Oft wird diese Hervorhebung durch Fettdruck der Aussage erreicht, durch Verwendung einer größeren oder anderen Schriftart oder die Nutzung einer auffälligen Farbe. Möchte ein Hörakustiker das Instrument der Blickfangwerbung für sich nutzen, sollte er darauf achten, dass die akzentuierte Aussage für sich genommen der Wahrheit entspricht. Ein erläuternder Zusatz, der wesentlich unauffälliger gestaltet ist als die Kernbotschaft, birgt die Gefahr, dass ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht vorliegt. Ist die gesamte Werbung auffällig gestaltet und nahezu alle Aussagen sind in der Werbung farblich und drucktechnisch hervorgehoben, liegt allerdings keine Blickfangwerbung vor. Für die Beurteilung, ob es sich um Blickfangwerbung handelt, kommt es auf den durchschnittlich informierten und interessierten Verbraucher an. Dieser Maßstab wird in Wettbewerbssachen herangezogen und entspricht in der Regel dem Durchschnittskunden. In Gerichtsverfahren berufen sich Richter häufig darauf, ebenfalls zu diesem Personenkreis zu gehören. Das hat den praktischen Vorteil, dass sie die Beurteilung, wie die angesprochenen Verbraucher die betreffende Werbung verstehen, selbst beurteilen können. 

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier

Stephanie Graeff, Syndikusrechtsanwältin, Bundesinnung der Hörakustiker KdöR (biha)

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