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Das neue Arbeitszeitgesetz, mit der Verpflichtung des Arbeitgebers, die Arbeitszeit aufzuzeichnen, steht vor der Tür. Ein entsprechender Referentenentwurf liegt dem Bundesminister für Arbeit und Soziales vor. Aber bereits jetzt verfügen viele Unternehmen über ein elektronisches Zeiterfassungssystem. Dieses System sollten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht umgehen, da dies weitreichende Konsequenzen für das Arbeitsverhältnis bis hin zur fristlosen Kündigung haben kann. Dies zeigt auch die hierzu ergangene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamm (Westfalen) vom 27.01.2023 (LAG Hamm, Urteil vom 27.01.2023, Az.: 13 Sa 1007/22), dessen Gründe nun aktuell vorliegen.

 

Problemstellung

Die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist von Vertrauen geprägt. Der Arbeitnehmer darf darauf vertrauen, dass der Arbeitgeber ihm die Vergütung pünktlich bezahlt und die Steuern und die Sozialversicherungsbeiträge rechtzeitig abführt, ihm im Krankheitsfall den Lohn weiterzahlt, den Arbeitnehmer fürsorglich behandelt und vieles mehr. Der Arbeitgeber darf darauf vertrauen, dass der Arbeitnehmer mit den Betriebsmitteln sorgsam umgeht (Vermögensgegenstände des Unternehmens) und während der Arbeitszeit seine Arbeitskraft dem Arbeitgeber zur Verfügung stellt. Letzteres ist oft doch nicht so ganz Vertrauenssache, Stichwort Arbeitszeiterfassung. Viele, vor allem Großunternehmen, kontrollieren die Arbeitszeit durch deren Aufzeichnung. Auf der Baustelle mögen es Stundenzettel sein, in einem stationären Unternehmen ist es die elektronische Stechuhr. Wenn der Arbeitnehmer entgegen den Weisungen des Arbeitgebers diese Uhr nicht oder nicht richtig bedient, kann die Frage aufkommen, ob der Arbeitnehmer nicht den Arbeitgeber vorsätzlich täuscht und einen sogenannten Arbeitszeitbetrug begeht. Eine solche Frage hatte das LAG Hamm zu entscheiden.

 

Sachverhalt

Die im Jahr 1959 geborene Arbeitnehmerin (Klägerin) war seit 2013 bei dem Arbeitgeber (Beklagter) beschäftigt. Die Arbeitnehmerin ist schwerbehindert. Alle Arbeitnehmer des Arbeitgebers sind verpflichtet und angewiesen, die tägliche Arbeitszeit und die Pausen mittels einer elektronischen Stechuhr aufzuzeichnen. An dem Zeiterfassungsgerät befindet sich ein Kalender, er dient dazu, den Arbeitnehmern die Möglichkeit zu geben, vergessene Ein- und Ausstempelzeiten schriftlich nachzutragen. Diese Korrekturmöglichkeit ist auch der klagenden Arbeitnehmerin bekannt gewesen.

Am 08.10.2021 loggte sich die Arbeitnehmerin um 7:20 Uhr durch Bedienung der Zeiterfassung ein. Gegen 8:30 Uhr ging die Arbeitnehmerin für mindestens zehn Minuten in das gegenüber dem Betrieb des Arbeitgebers liegende Café und traf sich dort mit einer weiteren Person zum Kaffeetrinken. Vor ihrem Fortgang um 8:30 Uhr sagte die Arbeitnehmerin ihren Kolleginnen und Kollegen, sie gehe in den Keller. Die Arbeitnehmerin bediente weder vor noch nach dem Besuch des Cafés die Stechuhr. Nach ihrer Rückkehr konfrontierte der Arbeitgeber die Arbeitnehmerin mit ihrem vermeintlichen Fehlverhalten. Als der Arbeitgeber ihr ankündigte, seine Beweisfotos auf seinem Handy der Arbeitnehmerin zu zeigen, gab diese ihr Verhalten zu. Mit Schreiben vom 11.10.2021 beantragte der Arbeitgeber bei dem zuständigen Integrationsamt (jetzt Inklusionsamt) die Zustimmung zur fristlosen und außerordentlichen Kündigung. Das Amt teilte am 27.10.2021 mit, dass die Zustimmung in der zweiwöchigen Frist des § 174 des IX. Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) nicht erteilt werden könne. Damit tritt eine gesetzliche Fiktion ein, sodass die Zustimmung des Inklusionsamts als erteilt gilt.

Der Arbeitgeber kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis noch am gleichen Tag fristlos, hilfsweise fristgerecht. Das Schreiben mit der Kündigung ging der Arbeitnehmerin noch am 27.10.2021 zu.

Entscheidungsgründe

Das LAG entschied, wie bereits zuvor das Arbeitsgericht Gelsenkirchen, dass die fristlose Kündigung der Arbeitnehmerin wirksam war. Das Arbeitsverhältnis endete am Tag des Zugangs der Kündigung am 27.10.2021.

 

Wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung

Ob ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung vorliegt, bemisst das LAG an zwei Kriterien. Zunächst ist zu prüfen, ob der Sachverhalt „an sich“, d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Zum anderen stellt sich die Frage, ob dem kündigenden Arbeitgeber unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar war oder nicht.

 

Schwerer Vertrauensmissbrauch ist wichtiger Grund

Das LAG stellte fest, dass der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren, an sich einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung darstellt. Die Einhaltung der Arbeitszeit ist vom Arbeitgeber ohnehin nur schwer zu kontrollieren. Das gelte für den Missbrauch einer Stempeluhr genauso wie für das wissentliche und falsche Ausstellen entsprechender Formulare. Der Arbeitgeber muss auf die konkrete Dokumentation der Arbeitnehmer vertrauen können. Dies gilt insbesondere dann, wenn er den Nachweis der Arbeitszeit auf den Arbeitnehmer überträgt. Missbraucht der Arbeitnehmer vorsätzlich das Arbeitszeiterfassungssystem, liegt darin ein schwerer Vertrauensmissbrauch.

 

Vorsatz

Die Klägerin behauptete in der Berufungsinstanz, nur versehentlich die Stechuhr nicht bedient zu haben (Fahrlässigkeit). Das glaubte ihr das LAG Hamm jedoch nicht. Zum einen behauptete die Klägerin vor ihrem Cafébesuch gegenüber den Kollegen, in den Keller zu gehen. Dies spricht für einen Plan. Zum anderen hatte der Arbeitgeber sie nach dem Cafébesuch mit ihrem Fehlverhalten konfrontiert. Zu diesem Zeitpunkt sprach die Klägerin jedoch nicht von einem Versehen, sondern leugnete, im Café gewesen zu sein. Daraus schloss das LAG einen irreparablen Vertrauensmissbrauch.

 

Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung?

Vorliegend war dem Arbeitgeber der Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist (hier nach dem Fall drei Monate zum Monatsende) nicht zumutbar. Ob eine Unzumutbarkeit vorliegt, prüfen die Gerichte anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Das Abwarten der Kündigungsfrist oder gar eine Abmahnung kamen für das LAG Hamm nicht in Betracht. Dies ergibt sich vor allem aus dem Nachtatverhalten der Arbeitnehmerin. Das LAG stellte fest, die Arbeitnehmerin habe den Arbeitgeber angelogen. Erst als die Feststellungen des Arbeitgebers zu einer Überführung der Arbeitnehmerin geführt habe (Stichwort Fotos auf dem Handy), sei die Pflichtverletzung von ihr zugegeben worden. Hinzu kam ihr planvolles Vorgehen, den Kollegen zu suggerieren, in den Keller zu gehen. Dagegen musste die Schwerbehinderung zurückstehen.

 

Kein Ausschluss der Kündigung wegen geringem Schaden

Schließlich scheitert ein wichtiger Grund nicht an dem vergleichbar geringen wirtschaftlichen Schaden, den die Arbeitnehmerin verursacht hat (zehn Minuten der Arbeitszeit). Seit der Bienenstich-Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), (BAG, Urteil vom 17.05.1984, 2 AZR 3/83) führen auch geringwertige wirtschaftliche Schäden bei einer Straftat oder einem vergleichbaren erheblichen Fehlverhalten des Arbeitnehmers nicht dazu, eine fristlose Kündigung auszuschließen. Bei der genannten Rechtsprechung des BAGs lag der Fall zugrunde, dass eine Mitarbeiterin einen Bienenstich gegessen hatte, der 30 Minuten später ohnehin weggeworfen worden wäre (Wert des Kuchenstücks 0,30 Euro).

 

Kündigungsfrist bei Schwerbehinderung

Auch die Kündigungsfrist wurde eingehalten. Grundsätzlich beträgt die Kündigungsfrist zwei Wochen ab Kenntniserlangung durch den Arbeitgeber (§ 626, Abs. 2 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Das zur Kündigung berechtigende Ereignis war vorliegend am 08.10.2021. Die Kündigung hätte danach am 22.10.2021 erfolgen müssen. Vorliegend war die Arbeitnehmerin schwerbehindert. Auch im Fall einer fristlosen Kündigung eines schwerbehinderten Menschen muss die Zustimmung des Inklusionsamts eingeholt werden, § 174 SGB IX. Nach Zustimmung des Inklusionsamts, die innerhalb von 14 Tagen ab Antragstellung erfolgen muss, ist die fristlose Kündigung unverzüglich (ohne schuldhaftes Zögern) vom Arbeitgeber auszusprechen. Hier trat die Fiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX ein. Das Inklusionsamt hatte in der Frist von 14 Tagen nicht reagiert. In diesem Fall gilt die Zustimmung nach Fristablauf als erteilt. Der Antrag des Arbeitgebers war vom 11.10.2021. Wann der Antrag dem Inklusionsamt zuging, sagt der Sachverhalt nicht. Jedenfalls hat das LAG eine drei Tage nach Ablauf der Zustimmungsfrist ausgesprochene und am gleichen Tag zugegangene fristlose Kündigung noch als unverzüglich anzusehen. Die Kündigung war also rechtzeitig erfolgt. Nach allem war die fristlose Kündigung wirksam.

 

Für die Praxis

Die vorliegende Entscheidung ist gerade vor dem Hintergrund der neuen Verpflichtung des Arbeitgebers, die Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen, sehr aktuell.

 

Kontrolle der Arbeitszeiterfassung

Die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer zu erfassen, ist auf dem Gesetzgebungsweg und wird kommen. Ein Arbeitgeber mit bis zu zehn Arbeitnehmern kann dann die Arbeitszeit auch handschriftlich oder schriftlich aufzeichnen (Kleinbetriebsklausel). Bei Unternehmen mit mehr als zehn Arbeitnehmern ist dann die elektronische Zeiterfassung verpflichtend. Der elektronischen Form soll aber schon durch Excel-Tabellen oder eine Smartphone-App Genüge getan werden. Der Arbeitgeber kann die Aufzeichnung delegieren. Die Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeit kann durch den Arbeitnehmer oder einen Dritten erfolgen. Der Arbeitgeber bleibt für die ordnungsgemäße Aufzeichnung jedoch verantwortlich. Um sich als Arbeitgeber zeitlich zu entlasten, wird der Arbeitgeber die Zeiterfassungsverpflichtung seinem Arbeitnehmer – wie vorliegend – übertragen. Hierbei kann es, das zeigt der hier zu besprechende Fall, zu erheblichen Problemen kommen, wenn der oder mehrere Arbeitnehmer die zusätzliche Verpflichtung umgehen. Dies kann versehentlich geschehen, aber auch, wie der hier besprochene Fall zeigt, mit Vorsatz. In letzterem Fall wäre die schlimmste Option, als Arbeitgeber nichts zu tun. Ein derartiges Verhalten eines oder mehrerer Arbeitnehmer wirkt sich schließlich negativ auf die Arbeitnehmer aus, welche vertragstreu sind und ihre Arbeitszeit ordnungsgemäß aufzeichnen. Auf Letzteres hat das Verhalten der Kollegen einen negativen Vorbildeffekt. Diese sehen, dass der Arbeitgeber im Unternehmen Unrecht bzw. eine latente Ungleichbehandlung duldet. Dies wirkt sich dann auf das Betriebsklima negativ aus. Möchte man in Zeiten des Fachkräftemangels auf den Arbeitnehmer – noch nicht – verzichten, bietet sich im ersten Schritt wenigstens eine Abmahnung an.

 

Vertrauensarbeitszeit

Eine Alternative zur Aufzeichnung der Arbeitszeit ist die Vertrauensarbeitszeit, die auch nach der Gesetzesänderung beibehalten werden kann. Wie genau diese Vertrauensarbeitszeit umgestaltet werden kann, sagt der Gesetzesentwurf nicht. Möglicherweise müssen nur die Arbeitszeitgrenzen des Arbeitsschutzgesetzes aufgeweicht werden, falls diese erreicht sind. Genaueres ist jedoch nicht bekannt.

 

Schriftliche Zeiterfassung

Das LAG Hamm stellt in seiner Entscheidung bereits jetzt klar, dass auch eine vorsätzliche, wissentlich falsche Ausstellung eines Zeiterfassungsformulars zu einer Pflichtverletzung führen kann. Dies könnte dann, ebenso wie das Nichtbedienen einer Stempeluhr, zu einer fristlosen Kündigung führen, wenn die Pflichtverletzung vorsätzlich erfolgte. In jedem Fall bietet sich für den Arbeitgeber im Kleinbetrieb an, stichprobenhaft die Aufzeichnungen in der laufenden Woche zu kontrollieren. Gleiches gilt, falls der Arbeitgeber verpflichtet ist, eine elek­tronische Zeiterfassung einzuführen. So wird sich häufenden Ungereimtheiten in der schriftlichen Zeiterfassung vorgebeugt und Friktionen werden bereits im Vorfeld vermieden.

Nach allem missbraucht der Arbeitnehmer bei einem Arbeitszeitbetrug das Vertrauen des Arbeitgebers. Eine Kontrolle durch den Arbeitgeber ist deshalb angezeigt. Insoweit bewahrheitet sich das dem russischen Politiker Lenin zugeschriebene Zitat: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“

Das Urteil zum Fall lesen Sie hier

Peter Radmacher, Leitung Abteilung Recht, Bundesinnung der Hörakustiker (biha) KdöR

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