Wer im Internet Gleitsichtbrillen in Optikerqualität bewirbt und vertreibt, begeht eine Irreführung, wenn dabei allein auf Angaben im Brillenpass zurückgegriffen wird. Das hat der Bun­desgerichtshof jüngst entschieden (BGH, Urteil vom 03.11.2016; I ZR 227/14 – Optiker-Qualität). Denn er erweckt den Eindruck, dass er Leistungen erbringt, die nur ein im stationären Handel tätiger Optiker erbringen kann. Zudem muss der Onlineanbieter klare Warnhinweise geben, weil die Nutzung solcher Gleitsichtbrillen Gefahren im Straßenverkehr mit sich bringt.

 

 

Die neue BGH-Entscheidung ist ein Meilenstein für die Gesund­heitshandwerke. Sie bestätigt die Gefahrengeneigtheit und damit die Bedeutung der gesundheitshand­werklichen Dienstleistungen und stärkt zugleich die Gesundheitsinteressen der Verbraucher.


Auf einer von Tchibo beworbenen Internetplattform wurden Brillen und Kontaktlinsen samt deren Zubehör angeboten und vertrieben, darunter auch Gleitsichtbrillen. Die Kunden suchen sich dabei auf der Internetplattform eine Brillenfassung aus, teilen − ebenfalls online − die in ihrem Brillenpass angegebenen Werte mit und erhalten anschließend eine entsprechend angefertigte Brille zugesandt. Die so hergestellten Gleitsichtbrillen wurden unter anderem mit der Angabe „Premium-Gleitsichtgläser in Optiker-Qualität“ beworben.

Gegen diese Werbung klagte der Bundesinnungsverband Zentralverband der Augenoptiker und Opometristen (ZVA) wegen Irreführung der Verbraucher über die Eigenschaften der online beworbenen und vertriebenen Gleitsichtbrillen. Hilfsweise verlangte der ZVA, diesen Gleitsichtbrillen einen Warnhinweis beizufügen, dass die Benutzung der so hergestellten Brillen eine Gefahr im Straßenverkehr darstellen kann. Hintergrund ist, dass der Brillenpass nicht die übrigen von einem Optiker festgestellten Parame-ter wie Hornhautscheitelabstand, Fassungsvorneigung und Einschleifhöhe angibt, die erst eine sichere Verwendung von Gleitsichtbrillen im Straßenverkehr zulassen.

Das Landgericht Kiel hatte die Klage des ZVAs in erster Instanz vollständig abgewiesen. Es hatte unter anderem argumentiert, dass der durchschnitt­lich informierte und verständige Ver­braucher „sich in der Regel überhaupt keine Gedanken darüber macht, wie ein Optiker seine Brillen herstellt und was er dabei außer den Daten im Bril­lenpass benötigt, um eine passende Brille herzustellen“. Deshalb könne der Verbraucher auch nicht irregeführt werden. Selbst den vom ZVA geforder­ten Warnhinweis für die Benutzung im Straßenverkehr lehnte das Landge­richt Kiel ab: Der durchschnittliche Verbraucher würde auch ohne einen solchen Hinweis bei einer nicht rich-tig angepassten Gleitsichtbrille alsbald bemerken, „welche Gefahren – nicht nur im Straßenverkehr – mit der Be­nutzung seiner Gleitsichtbrille verbunden sind“.

Diese letzte Argumentation des Landgerichtes trug das Schleswig-Hol­steinische Oberlandesgericht in seiner Berufungsentscheidung nicht mit: Der fehlende Warnhinweis sei zwar nicht erforderlich aufgrund medizinproduk­terechtlicher Vorschriften, aber sein Fehlen sei irreführend. Dadurch werde das Risiko verschwiegen, dass infolge der nicht berücksichtigten optischen Parameter das horizontale Blickfeld eingeschränkt und der Überblick über den seitlichen Verkehr beeinträchtigt sei. Deshalb müsse der Onlinevertrieb seinen Gleitsichtbrillen einen entspre­chenden Warnhinweis beifügen.

Im Übrigen wies aber auch das Oberlan­desgericht die Klage ab. Die Angabe Optikerqualität sei nicht irreführend. Das Oberlandesgericht stellte dabei ebenfalls auf die Verbrauchervorstel­lungen ab − jedoch unter genau umgekehrten Vorzeichen: Während das Landgericht der Auffassung war, dass sich der Verbraucher überhaupt keine Vorstellungen über die Dienstleistun­gen des Optikers mache, erklärte das Oberlandesgericht „… dass der Kun-de weiß, dass der Beklagten (gemeint: der Onlineplattform) − anders als ei­nem Optiker − zur Anfertigung der Bril­le nur die Daten aus dem Brillenpass zur Verfügung stehen … Der Verbrau­cher weiß, dass die Beklagte nicht den Hornhautscheitelabstand, die Fas­sungsvorneigung und die Einschleif­höhe ermittelt …“. Der solchermaßen bestens informierte Verbraucher kann folglich nach Auffassung des Oberlandesgerichtes keiner Fehlvorstel-lung und damit keiner Irreführung unterliegen.

Die vorinstanzlichen Entscheidun­gen bürdeten damit die Gefahren und Risiken vollständig dem Endverbrau­cher auf: Dieser weiß entweder ohne­hin nicht, welche Leistungen er beim Gesundheitshandwerker erwarten darf oder aber umgekehrt, er ist über alle optischen Parameter der Brillenanpas­sung bestens unterrichtet. So oder so kann er deshalb keinen Fehlvorstellun­gen unterliegen. Die Gefahren im Stra­ßenverkehr, die aus einer nicht handwerksgerecht angefertigten Gleitsicht­brille herrühren, wird der Verbraucher wiederum so schnell bemerken, dass er diese Brille im Straßenverkehr gar nicht erst benutzt und deshalb sich selbst und andere Verkehrsteilnehmer keinen Gefahren aussetzt.

Diesen Argumenten hat der BGH ei­ne klare Absage erteilt und der Klage des ZVAs in den wesentlichen Punkten stattgegeben: Der BGH hat zunächst die von den Vorinstanzen vollständig übersehene Spezialregelung des Heil­mittelwerbegesetzes (HWG) herange­zogen. Diese verbietet es, durch un­wahre oder täuschende Angaben über die Beschaffenheit von Medizinpro­dukten irreführend zu werben (Para­graf 3 Satz 2 Nr. 3 lit. a HWG). Der BGH stellte klar, dass die Angabe Optiker­qualität beim Verbraucher so aufgefasst wird, dass er die ordnungsgemäßen Leistungen eines im stationären Han­del tätigen Optikers erhält. Der BGH hielt es nicht für maßgeblich, welche Kenntnisse oder Nichtkenntnisse der Verbraucher über konkrete optische Parameter und ihre Bedeutung bei der Brillenanpassung hat.

Er hielt vielmehr für maßgeblich, welche Vorstellungen der Verbraucher mit den Leistungen eines Gesundheitshandwerkers verbin­det, der in einem gefahrengeneigten Bereich, nämlich im Gesundheitsbe­reich, tätig ist. Der BGH stellte die Ar­gumentation damit vom Kopf wieder auf die Füße: Nicht der Verbraucher kann (und soll) den Vorgang der Bril­lenanpassung einschätzen, sondern allein der nach den zwingenden Be­rufsvorschriften ausgebildete und ge­prüfte Optiker. Der BGH stellt aus­drücklich fest: „Der Verbraucher wird deshalb nicht − wie vom Berufungsgericht unterstellt − zwischen Optikerleistungen, die aufgrund der Daten aus dem Brillenpass einschließlich des Pupillendistanzwertes erbracht werden können, und solchen Leistungen unterscheiden, die allein der Optiker vor Ort aufgrund weiterer Untersuchungen des Kunden erbringen kann. Nach dem Berufsbild des Augenoptikerhandwerkes müssen bei der Fertigung und Anpassung von Brillen die sich aufgrund der Physiognomie und der Individualität des Kunden ergebenden notwendigen Maße und Werte, wie insbesondere der Hornhautscheitelabstand, die Fassungsvorneigung sowie die Einschleifhöhe (vertikale Zentrierung), festgestellt werden.“

Der BGH bekräftigte außerdem die Gefährdung, die im Straßenverkehr durch die nicht in Optikerqualität her­gestellten Gleitsichtbrillen ausgeht. Er hielt es für nicht zulässig, darauf zu vertrauen − wie es das Oberlandesge­richt getan hatte −, dass der Verbrau­cher selbst die Unbrauchbarkeit der Gleitsichtbrillen im Straßenverkehr er­kennt und diese nicht mehr verwendet. Im Gegenteil stellte der BGH fest, dass im Gesundheitsbereich nur geringe Anforderungen an die Wahrscheinlich­keit des Eintrittes einer Schädigung zu stellen sind (Paragraf 4 Abs. 1 Nr. 1 Me­dizinproduktegesetz (MPG)). Deshalb muss den im Internet angebotenen und vertriebenen Gleitsichtbrillen ein Warnhinweis zur Gefährlichkeit ihrer Nutzung im Straßenverkehr beigefügt werden.

Die BGH-Entscheidung zur Optikerqualität hat erhebliche praktische Bedeutung nicht nur im Optik-, sondern auch im Hörakustikhandwerk. Auch andere Onlineleistungen im Bereich der Gesundheitshandwerke sind fortan kritisch zu betrachten, sodass die nachfolgenden Punkte nur eine erste Anregung für weitere Diskussionen sein können: Die Bezeichnung Gesundheitshandwerkerqualität, also zum Beispiel Hörakustikerqualität, ist Produkten und Dienstleistungen vorbehalten, die von einem Hörakustiker nach dem Berufsbild des Hörakustikhandwerkes bei der Anpassung von Hörgeräten zu Hörsystemen erbracht werden. Die Nutzung solcher Angaben durch andere Marktteilnehmer ist irreführend und damit verboten.

 

Bereits der Onlinehandel von Hörgeräten (ohne Anpassung) kann nach dem Medizinproduktegesetz verboten sein, wenn die Geräte vom Verbraucher selbst in Benutzung genommen werden können. Dabei sind nur ganz geringe Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Hörschädigung zu stellen. In solchen Fällen müssen die Onlinehändler den Geräten zumindest klare Warnhinweise beifügen. Bei der Gefahr einer dauerhaften Schädigung des Gehöres kann ein Onlinehandel mit Hörgeräten sogar ganz verboten sein.

 

Ein Onlineangebot von Anpassungsleistungen fällt in den Bereich von Dienstleistungen, die Hörakustiker nach dem Berufsbild des Hörakustikhandwerkes wahrnehmen. Dabei ist die nach der Handwerksordnung vorgeschriebene Meisterpräsenz zu beachten.

 

Da auch Software zu den Medizinprodukten zählt, gelten auch für Software und Apps im hörakustischen Bereich die Voraussetzungen unter Ziffer 2. Das bedeutet, dass auch der Vertrieb von Software bei der Gefahr gesundheitlicher Schädigung verboten sein kann.

 

Dr. Karin Althaus-Grewe · bihapillendistanzwertes